Teil 1: Symptome, Unterschiede zu herkömmlichem Training und Ziele
RH: Welche Beckenbodenschwierigkeiten treten bei chronischen neurologischen Erkrankungen häufig auf?
AK: Generell können bei chronischen neurologischen Erkrankungen Beckenbodenschwierigkeiten in vielerlei Gestalt auftreten. So kann beispielsweise die Kognition betroffen sein, sodass Harndrang weniger zuverlässig wahrgenommen wird. Das erschwert die rechtzeitige Entleerung bzw. die Ansprache von Pflegepersonen.
Es können unterschiedliche Nervenbahnen betroffen sein: Veränderungen des so genannten vegetativen Nervensystems können zu Drangsymptomen, Harnverhalt (Retention) und erektiler Dysfunktion führen.
Sind die aufsteigenden Nervenbahnen (Afferenzen) betroffen, verändert sich die Interpretation von Sensibilität und Schmerz. Dadurch kann es zu Überempfindlichkeit (Hyperästhesie) oder einem Minderempfinden (Hypästhesie) von Berührungsreizen kommen, aber auch Schmerzsyndrome können die Folge sein.
Sind die absteigenden Bahnen (Efferenzen) von der Erkrankung betroffen, verändert sich die neuromuskuläre Ansteuerung. Durch verringerte Maximalkraft, Kraftausdauer, Schnelligkeit oder Reaktion, aber auch durch fehlende Entspannung und veränderte muskuläre Grundspannung wird der Beckenboden geschwächt. Bemerkbar wird das in Form einer Belastungsinkontinenz.
Als Folge dieser Schwächung können sich muskuloskelettale Strukturen und die Gewebespannung verändern. Dadurch kann es einerseits zu Lageveränderungen der Beckenorgane, andererseits zu Harnverhalten (Retention) kommen.
RH: Sie bieten Kurse für MS PatientInnen an. Was sind die Hauptprobleme im Bereich Beckenboden, die bei dieser Gruppe auftreten?
AK: Sowohl Dranginkontinenz als auch Harnverhalten treten auf, die direkt auf die MS zurück zu führen sind.Häufig ist auch die neuromuskuläre Ansteuerung und die Gewebespannungdes Beckenbodens verändert. Durch die Erkrankung verändert sich oftmals auch die Rumpfmuskulatur und damit die Haltung. Diese Veränderungen, aber auch spastische Symptome können sich negativ auf den Beckenboden auswirken.
RH: Wie unterscheidet sich das Training von einer „normalen“ Beckenbodengruppe?
AK: Information und Beratung sowie Erfahrungsaustausch spielen eine besonders große Rolle bei dieser Erkrankung. Als Kursleiterin ist es sehr wichtig festzustellen, welche Beschwerden direkt durch Verhaltensstrategien (inkl. Ernährung und Pflegehilfsmitteln oder Veränderung der Rahmensituation) oder gezielte Übungen gelöst werden können.Die PatientInnen werden dabei über wiederholte Termine gestützt.
Aufgrund der vielfältigen Symptome erhält jede Einheit einen eigenen Schwerpunkt. Wichtig ist aber auch bereits thematisierte Themen regelmäßig zu wiederholen und „dran zu bleiben“.
Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der MS um eine fortschreitende Erkrankung handelt, erwarte ich nicht, dass danach keine Beeinträchtigung mehr vorliegt. Manche Beschwerden benötigen Einzeltherapie, zu manchen bleibt die Ursache eben bestehen oder nimmt zu.
RH: Was sind die Hauptziele des Trainings?
AK: Die PatientInnen lernen in ihrem Alltag über gezielte Strategien ihre vegetative Steuerung zu beeinflussen. Sie lernen ihren Beckenboden wahrzunehmen und selektiv anzusteuern. Sie lernen über die Dauer des Kurses die ersten zwei Wochen täglich und in den weiteren Wochen mind. 3x/Woche gemäß der im Kurs erlernten Parameter eigenständig zu trainieren.
FH-Prof. Anita Kidritsch, MSc
- Stellvertetung im fachlichen Netzwerk Neurologie von Physioaustria seit 2017
- Physiotherapeutin im Multiple Sklerose Tageszentrum seit 2009
- Abschluss Master of Science in Physiotherapie 2011
- Dozentin an der Fachhochschule St. Pölten seit 2013